Über die Wahrnehmung in der
Architektur
1. Die Wahrnehmung Das Objekt/Subjekt Denken ist für das Verstehen der Relation von Wahrnehmung und Architektur grundlegend. Nichts kann sich einer subjektiven Betrachtungsweise entziehen, erst durch das Subjekt erlangt das Objekt seine Bedeutung. Das Subjekt und daher der Betrachter von Architektur erfährt im zeitlichen Lauf eine Fülle von Sinnesempfindungen, die gebündelt und rückgekoppelt ein sich ständig wandelndes Bild erzeugen. Daraus ergibt sich unweigerlich, dass subjektiv Erlebtes massgeblich für die Wahrnehmung und somit auch für die Beurteilung von Architektur ist. Allgemeine Gültigkeiten gibt es nicht. Lediglich in Archetypen menschlichen Bauens könnte ein gemeinsamer Nenner von Empfindungsmuster gefunden werden. Dabei gilt es zu erforschen ob ein prärationales Bewusstsein für Form existiert, das den Regeln der Architektur und deren Wahrnehmung zugrunde liegt. Stark beeinflusst ist die Wahrnehmung auch von Wissen. Unterschiedliches Wissen führt zu unterschiedlicher Wahrnehmung. Für die Architektur folgt daraus, dass der Architekt als „Wissender" das Gebäude anders sieht, bzw. wahrnimmt als der Laie. So kommt es, dass ein unterschiedliches Mass an Fachwissen zu gegenseitigem Unverständnis führt. Das Grazer Rathaus suggeriert dem Laien Geschichtsträchtigkeit, wobei es der Experte als fatale Mischung unterschiedlichster Stile entlarvt. Die Arbeit des Architekten stützt sich auf gesellschaftliche Werte, doch zu oft begeht er den Fehler diese von der eigenen Person abzuleiten. Sein Wissen erzeugt in ihm das Gefühl von Wahrheit, nicht aber die Wahrheit selbst. Kollektive Bedürfnisse und Werte sind anderswo zu suchen. Überträgt man dies auf die Einbindung der Wahrnehmung in die Architektur, so ergibt sich daraus, dass es die Maxime der Entwurfsarbeit des Architekten sein muss sich von der eigenen Wahrnehmung zu lösen, um nicht aus eigenem Unvermögen heraus unreflektiert zu reproduzieren. Der Entwurf soll mit der Wahrnehmung der Menschen, ähnlich der Werbung, spekulieren, sie stimulieren und somit den Intellekt des Menschen ansprechen. Die Wahrnehmung muss herausgefordert und nicht überfordert werden. Um das zu erreichen ist es wichtig den Wahrnehmungsprozess zu analysieren. Was sind die Voraussetzungen für das Wahrnehmen von Architektur? Wahrnehmung entsteht durch Verknüpfung von Wissen/Denkmustern im menschlichen Gehirn, als Folge auf sinnliche Reize. Auch wenn die Zeichen der Muster dieselben sind, werden sie doch verschieden verknüpft, oder sind mit unterschiedlichen Werten/Bildern gefüllt (symbolischer Interaktionismus). Die den Mustern zugrunde liegenden Werte und Bilder sind geprägt von dem Zusammenspiel von Herkunft, Erlebnissen und eigener Geschichte, und werden durch soziale Interaktion ausgetauscht, bestätigt und widerlegt. Wichtig dabei ist, dass der Mensch und dessen Wahrnehmung von allen Seiten beeinflussbar ist und beeinflusst wird.
So wie Bedürfnisse ist auch die menschliche Wahrnehmung an Zeit und Ort gebunden. Die Zeit ist der Masstab an dem Quantitäten wie „gut" oder „sinnvoll" gemessen werden. Der Ort bestimmt lokale Zeitgeschichte, die kollektive Gewohnheiten und Vorlieben entwickelt.
2. Die Form und Orientierung Der Mensch wird durch seine Wahrnehmungen emotionell berührt, was sich auf Erfüllung oder nicht Erfüllung von Erwartungen zurückführen lässt. Er reagiert verunsichert, wenn er den räumlichen Überblick verliert, wenn er die Geometrie nicht begreifen kann. Was anfänglich als visuelles Chaos und hoffnungslose Überforderung der menschlichen Wahrnehmungsfähigkeit wirkt kann später, nach intensiverem Befassen mit Funktion und Detail, als formale Vielfalt empfunden werden. Die Form stellt das Medium dar, das zwischen Inhalt des Gebäudes und dem Betrachter, bzw. Benutzer vermittelt. Sie kann durch eine Zielgruppe bestimmt sein, darf aber nicht den kleinsten gemeinsamen Nenner darstellen. Entwicklung und Fortschritt im formalen Umgang mit Architektur fordern den Intellekt des Betrachters und tragen zu dessen Weltbild bei. Die Stagnation der Architekten spiegelt mangelndes Freiheitsbewusstsein wider, welches Architektur und Gesellschaft gemein haben. Die kunstgeschichtliche und soziale Vergangenheit der marxistischen Länder bewies dies. Vollkommen freie Architektur, wie die durch Algorithmen generierte provoziert, fordert heraus. Die Frage die sich stellt ist, inwieweit sich die Freiheit der Form den Zwängen der Orientierung unterordnen muss, da Orientierung ein konservatives Element darstellt. Ein Haus an dem der Eingang als solcher nicht erkennbar ist kann nicht benutzt werden.
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Abb. 1, 2: Die freie Form ermöglicht nur Orientierung durch konventionelles Einfügen in den gewohnten städtebaulichen Raster |
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Abb. 3, 4: Die städtebauliche Struktur wird durch eine unbekannte Form ergänzt, Neugierde wird geweckt und Neuorientierung ist erforderlich |
Der Mensch denkt in Mustern, er verknüpft Bilder von Bekanntem. Die theoretisch freie Architektur ist losgelöst von Geschichte und besitzt daher keine Elemente die wiedererkannt werden können. Also gilt es Form und Zeit in Einklang zu bringen. Die „virtuelle Landschaft"(Paul Virilio) via Bildschirm und Kommunikationsmedien öffnet die menschliche Wahrnehmung für Dinge die ausserhalb des reellen Wahrnehmungsfeldes existieren. Globale Ereignisse und Erscheinungen werden bewusst miterlebt und haben Einfluss auf das Verhalten. Daher ergibt sich der Architektur die Möglichkeit ihren Formenschatz über den des regionalen Bauens hinaus zu erweitern. Der Mensch wird offener und neugieriger für Neues und Unbekanntes. Trotzdem können Architekturalgorithmen (die Entwicklung von Architektur aufgrund ihrer immanenten genetischen Codes) nur dann zu einem befriedigenden Ergebnis führen wenn deren Parameter die Eigenheiten der Wahrnehmung im weitesten Sinn berücksichtigen. Sie müssen Orientierung gewährleisten und somit auch die Geschichte der Architektur berücksichtigen. Dadurch kommt es zu einem Spannungsfeld in dem Innovation und Konvention, sowie Wahrnehmung und Zeit direkt von einander abhängen. Hinzu kommt neuerdings die Gestaltung des virtuellen Raums. Es gilt Datenstrukturen dem Menschen zugänglich zu machen, was die Architektur zwingt ihre gesamte Konzeption zu überdenken. „Transarchitecture" (Marcus Novak) arbeitet mit Information als Grundlage für den architektonischen Entwurf. Räumlich organisierte Datenstrukturen bilden die Analogie von „real und virtual landscape". Dabei eröffnet sich der Architektur die Möglichkeit ihre grundlegende Struktur aus einem neuen Blickwinkel zu betrachten, sich als Träger von Information und Funktion zu sehen und dies der menschlichen Wahrnehmung gerecht zu machen.
Architektur muss als Objekt der Wahrnehmung behandelt werden und nicht als Medium einer übergeordneten Wahrheit. Der Wandel der menschlichen Wahrnehmung und Werte durch die Zeit bedarf einer dem aufgeschlossenen Form. Kein gebauter Determinismus, sondern räumliche und inhaltliche Flexibilität müssen Beständigkeit gewährleisten. Sollte diese nicht erreichbar sein kann und wird Architektur nur eine temporäre Erscheinung geringerer Bedeutung sein. Erst wenn dieser Gedanke im Bewusstsein der Architekten die Paradigmen der funktionalistischen Architektur ersetzt hat, dann wird diese Architektur eine gute sein. Daniel Bauer, Februar 2000
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